Der lange Marsch in die Gleichberechtigung

Ein Jahr nach Gründung der Bäckerei Rutz 1907 in pfälzischem Heltersberg tat sich in London für damalige Verhältnisse Unerhörtes. 500 000 Frauen und vereinzelt auch Männer marschierten zum Klang von 40 Frauen Blaskapellen im Londoner Hyde Park auf. Sie demonstrierten für das Frauenwahlrecht. Bereits mehr als 50 Jahre kämpften Arbeiterfrauen wie Lillian Lenton und Frauen aus dem Bildungsbürgertum wie Emeline Pankhurst bereits dafür, nahmen gesellschaftliche Ächtung in Kauf, gingen ins Gefängnis.

Auch heute werden Frauen in vielen Ländern noch benachteiligt, aber in Europa ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau in gesellschaftlichen und privaten Bereich zu großen Teilen zur Normalität geworden. Viele Frauen sind finanziell unabhängig, teilen sich die Erziehung ihrer Kinder mit ihren Partnern, nehmen gemeinsam Elternzeit, können selbstbewusst über ihr Leben bestimmen.

Das sah 1908, als die riesige Frauendemonstration in London stattfand, noch anders aus. Frauen hatten kaum Rechte, zumindest offiziell. Der Mann durfte alles bestimmen und über alles verfügen, auch über das Eigentum ihrer Frauen, denn dies ging bei der Eheschließung an den Mann über. Vor allem allein stehende Frauen auf dem Land hatten einen schweren Stand, wie Ingeborg Weber-Kellermann, in ihrem Buch Landleben im 19. Jahrhundert berichtet. Witwen konnten sich nur als Dienstmagd oder Saisonarbeiterin verdingen und waren meist auf Spenden der Dorfgemeinschaft angewiesen. Junge Frauen durften nicht heiraten, solange sie Magd waren, hatten oft kein eigenes Zimmer und waren sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Bekamen sie uneheliche Kinder, mussten sie diese zu Pflegeeltern geben und dafür fast ihren gesamten Verdienst aufbringen.

Aber Frauen waren auch schon damals der Rückhalt ihrer Familie, die alles mit am Laufen hielten und dafür rund um die Uhr schufteten. Seniorchef Eugen Rutz: „Sowohl meine Großmutter Phillipina als auch später meine Mutter Hedwig arbeiteten nachts in der Backstube mit, bedienten tagsüber die Kunden, schmissen den Haushalt, versorgten die Gesellen und zogen ihre Kinder groß. Sie waren beide starke Frauen.“

Frauenrechte ließen auf sich warten

Der Marsch zur Gleichberechtigung war lang. Wahlrecht bekamen die Frauen in den meisten europäischen Ländern bereits 1918, als Ergebnis der Revolution nach dem Ersten Weltkrieg. Aber in Deutschland sollte es zum Beispiel noch bis 1958 dauern, bis Frauen ohne Zustimmung des Ehemanns oder Vaters den Führerschein machen konnten. Und erst 1977 konnten Männer nicht mehr bestimmen, ob und wo ihre Frauen arbeiten. Den größten Fortschritt in der Gleichberechtigung erreichten die Frauen der 68iger Revolution, sowohl politisch als auch in den Köpfen von Männern und Frauen.

Wichtige Impulse für die Gleichstellung von Mann und Frau in der Arbeitswelt gingen in Deutschland schon immer auch von mittelständischen Familienunternehmerinnen aus. Dort übernehmen Frauen schon seit langem selbstverständlich die Führung und leben vor, dass sich Kinder und Karriere gut vereinbaren lassen. Auch Rutz ist ein Beispiel dafür. „Ohne die starke und selbstbewusste Mitarbeit meiner Mutter Hedwig wäre mein Vater Karl nie so erfolgreich gewesen“, sagt Seniorchef Eugen Rutz. Er und seine Frau Brigitte führten diese Tradition fort. Brigitte Rutz: „Mein Mann und ich haben die Bäckerei so wie sie ist, gleichberechtigt aufgebaut und alle unternehmerischen Entscheidungen gemeinsam getroffen.“ Und das ist auch gute Praxis bei der jetzigen Rutz-Generation.

© Rita Spatscheck